Sternstunde der Demokratie?

Sternstunde der Demokratie?

24. Juli 2020 Aus Von admin

Liebe Unterstützerinnen und Unterstützer,

Corona hin, Corona her, es ist höchst an der Zeit, Euch über den Stand der Dinge zu informieren. Wie ihr vermutlich wisst, wurde die Volksabstimmung über die Widmung der Flächen im Neugut vor dem Verfassungsgerichtshof (VfGH) angefochten. Es sind vor allem Grundstückseigentümer und ihre Familienangehörigen, die hinter der von einer Rechtsanwaltskanzlei eingebrachten Anfechtung stehen.

In einem nächsten Schritt hat der VfGH Ende Februar 2020 beschlossen, eine Normenkontrolle von Amts wegen durchzuführen. Dabei wird das anhängige Beschwerdeverfahren solange ausgesetzt, bis das Verfahren der Normenkontrolle entschieden ist. Das wird voraussichtlich im Herbst 2020 der Fall sein. Im Anschluss daran, wird über die Anfechtungsbeschwerde befunden.

Der VfGH hat den Prüfungsbeschluss zur Normenkontrolle (Gesetzes- und Verordnungsprüfung) von Amts wegen, deshalb gefasst, weil er der vorläufigen Auffassung ist, dass die in Prüfung gezogenen Bestimmungen a. relevant für die Entscheidung im anhängigen Beschwerdeverfahren und b. verfassungswidrig sind.

Es wurde uns das Recht eingeräumt, eine Äußerung zur Normenkontrolle einzubringen, die wir inzwischen an den Verfassungsgerichtshof übermittelt haben. Wir hätten es uns bis vor kurzem nicht träumen lassen, im Rahmen unseres zivilgesellschaftlichen Engagements bürgerrechtlich aktiv zu werden. Es war einiges an politischer und rechtlicher Weiterbildung erforderlich, uns auf den aktuellen Stand der Diskussion um die Demokratie in Österreich zu bringen. Das passiert nicht von heut auf morgen und braucht Zeit, war aber unverzichtbar, denn es geht bei dieser Normenprüfung um eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung.

Das demokratische Prinzip besteht an sich aus zwei Elementen, dem direkt-demokratischen (Selbstbestimmung des Volkes, Initiativrecht für die Herbeiführung einer solchen) und dem repräsentativ-demokratischen (Wahl von Volksvertretern als Repräsentanten). Diese beiden Elemente werden gemeinhin als komplementäre gesehen.

Allein das demokratische Prinzip der österreichischen Bundesverfassung wird als ein repräsentativ-demokratisches verstanden. In dieser Beschränkung liegt ein grundsätzliches demokratisches Defizit, das, sofern den Wahlberechtigten kein Initiativrecht zur Herbeiführung einer Volksabstimmung zugestanden wird, auch als ein rechtsstaatliches Defizit gesehen werden kann.

Und. Der Konflikt besteht auch in der Verfassung selbst, denn Artikel 1 des Bundes-Verfassungsgesetzes, der als der grundlegende und wichtigste Inhalt des demokratischen Prinzips gilt, bestimmt folgendes: „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.“

Um einem Missverständnis vorzubeugen. Die Österreichische Bundesverfassung weist viele unbestreitbare Qualitäten auf, und sie wird hier ausschließlich in diesem beschränkten Verständnis des demokratischen Prinzips kritisiert, das aber mit gutem Grund und im Wissen darum, dass diese Kritik auch von renommierten Fachleuten der rechtswissenschaftlichen Lehre geteilt wird. Denn das demokratische Selbstverständnis eines demokratischen Rechtsstaates ist von essentieller Bedeutung.

Wie auch immer, in seinem Prüfungsbeschluss äußert der VfGH eine Serie von Bedenken, und bringt dafür mehr oder weniger gute Argumente vor. Ihr Fazit: Der Verfassungsgerichtshof geht vorläufig davon aus, dass die in Prüfung gezogenen Bestimmungen der Landesverfassung, des Gemeindegesetzes und des Vorarlberger-Landesvolksabstimmungsgesetzes verfassungswidrig sind, sowie die Verordnung des Bürgermeisters der Gemeinde Ludesch gesetzeswidrig.

Seine zentrale Kritik besteht darin, dass in Vorarlberger Gemeinden auf Antrag von zum Gemeinderat Wahlberechtigen eine Volksabstimmung über eine Angelegenheit im eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde herbeigeführt werden kann und somit eine direkt-demokratische Willensbildung unter Ausschluss einer Willensbildung des ansonsten zuständigen Gemeinderats vorgesehen ist.

Und dass die Entscheidung des Wahlvolks für die Gemeindeorgane, inklusive dem Gemeinderat als dem obersten Gemeindeorgan, bindend ist.

In genau dieser Bindung liegt, dem vorläufigen Verständnis des VfGH zufolge, das verfassungsrechtliche Problem. Darin sieht der VfGH eine Art „Volksgesetzgebung“ bzw. etwas, das mit dem „repräsentativ-demokratischen (parlamentarischen) Grundprinzip der Bundesverfassung“ nicht vereinbar ist. Das demokratische Prinzip der Verfassung wird vom VfGH als repräsentativ-demokratisches verstanden, das direkt-demokratische Instrumente nur im Ausnahmefall vorsieht. Wobei sich das Verständnis des direkt-demokratischen Elements vor allem auf direkte Demokratie „von oben“ beschränkt, d.h. von repräsentativ-demokratischen Organen veranlasste.

Eine von Bürgern veranlasste Volksabstimmung auf Gemeindeebene, wie die von uns in Ludesch initiierte, hat – dem vorläufigen Verständnis des VfGH zufolge (!) – keine Grundlage in der Bundesverfassung. Sie hätte nicht stattfinden können, obschon der parlamentarische Bundesverfassungsgesetzgeber eine „unmittelbare Teilnahme der zum Gemeinderat Wahlberechtigten“, in der die Entscheidung des Wahlvolks an die Stelle jener des ansonsten zuständigen Gemeindeorgans tritt, im Bundesverfassungsgesetz Artikel 117 Absatz 8 ausdrücklich festschreibt.

Im Zuge der Prüfung und der Erörterung der im Prüfungsbeschluss dargelegten Bedenken mit der Vorarlberger Landesregierung wird zu klären sein, ob die Bedenken des VfGH zutreffen. Die Vorarlberger Landesregierung hat zu den Bedenken Stellung genommen und die für die Durchführung einer Volksabstimmung auf Gemeindeebene relevante Landesgesetzgebung mit guten Gegenargumenten verteidigt. Sie geht von der Verfassungskonformität der entsprechenden Gesetzesstellen aus. Allerdings ist sie bereit, das Initiativrecht der zum Gemeinderat Wahlberechtigten über die Klinge springen zu lassen. Und: sie gesteht der Entscheidung des Wahlvolks keine erhöhte Bestandskraft zu.

Unsere Äußerung artikuliert eine begründete bürgerliche Position und plädiert für ein vollumfängliches Verständnis des demokratischen Prinzips an sich, das aus zwei komplementären und gleichberechtigten Elementen besteht. Die Weiterentwicklung der Demokratie in Österreich ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das Ziel der Verfassung von 1920 war eine Demokratisierung sämtlicher Staatsfunktionen. Doch solange die Grundzüge der Verfassung durch ein repräsentativ-demokratisches Konzept gekennzeichnet sind, in dem das direkt-demokratische Element nur als eins „von oben“ Platz hat, steckt sie auf halbem Wege fest.

Wichtig: Es geht nicht so sehr um die konkrete Volksabstimmung in Ludesch, sondern in erster Linie um die prinzipielle Möglichkeit von Volksabstimmungen auf Initiative (Antrag) von zum Gemeinderat stimmberechtigten Bürger*innen und die Verbindlichkeit der auf demokratischem Wege zustande gekommenen Wahlentscheidung!

Das sind die beiden wesentlichen Merkmale des direkt-demokratischen Elements „von unten“. Dabei gilt es folgendes zu bedenken: Ein direkt-demokratisches Instrument, das nicht angewendet werden kann, wenn die stimmberechtigten Bürger*innen es für sinnvoll erachten, und das, falls doch „von oben“ zugelassen, nicht entscheiden kann, ist zahnlos! Und taugt maximal zur Behübschung der Verhältnisse. Einem solchen Instrument fehlt es von vornherein an Augenhöhe zwischen der Politik und den Bürger*innen. Ihm geht es um die konforme Mitwirkung und nicht um eine eigenständige demokratische Entscheidungsfindung. Das kann nicht im Sinne einer lebendigen Demokratie sein!

Über die Äußerung hinaus wird es in den kommenden Monaten darum gehen, eine möglichst breite öffentliche Aufmerksamkeit für diese Sache zu schaffen, denn gemäß dem demokratischen Prinzip ist es vor allem die Bevölkerung, der klar zu sein hat, was mit dieser Normenkontrolle auf dem Spiel steht.

Wir hegen keinen Zweifel daran, dass die Möglichkeit des Initiativrechts und der Entscheidungsbefugnis, die die Vorarlberger Landesgesetzgebung den zum Gemeinderat Wahlberechtigten einräumt, demokratiepolitisch notwendig und auf der Höhe der Zeit sind.

Falls es nicht gelingt, die Bedenken des VfGH zu zerstreuen, werden die derzeit rechtswirksamen landesgesetzlichen Bestimmungen, die die Durchführung einer Volksabstimmung auf Gemeindeebene regeln, aufgehoben. Wir sind gespannt.

Engagierte Grüße

Initiative Ludesch

Weiterführende Links:

https://www.vfgh.gv.at/medien/Pruefungsbeschluss_Volksabstimmung_Ludesch.de.php

(Prüfungsbeschluss des Verfassungsgerichtshofs im Wortlaut)

http://www.demokratiezentrum.org/themen/direkte-demokratie/demokratie-initiativen.html

(Ein Überblick über Demokratieinitiativen in Österreich; Eine kompakte Einführung in die Frage der direkten Demokratie bietet das Working Paper des Demokratiezentrums Wien „Direkte Demokratie: Forderungen – Initiativen – Herausforderungen.“ (Hg.) Gertraud Diendorfer)

https://www.mehr-demokratie.de/fileadmin/pdf/ve_in_oesterreich.pdf

(Ein Überblick über die Situation der Volksabstimmungen in Österreich)

https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXV/I/I_00791/index.shtml

(2015 wurde im Nationalrat eine Enquete-Kommission zur Stärkung der Demokratie in Österreich eingesetzt. Aufschlussreich sind vor allem Anhang B „Minderheitenbericht“ der damaligen Oppositionsparteien und Anhang A „Stellungnahmen der teilnehmenden BürgerInnen“)